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Von: Karsten-Dirk Hinzmann
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Die Ukraine mobilisiert ihre Reserven an der Front bei Pokrowsk und hält die russische Offensive auf. Es ist fraglich, ob sie damit mehr als einen zeitlichen Vorteil erzielt.
Pokrowsk –„Vor nicht allzu langer Zeit gab es öffentliche Diskussionen, denen zufolge die Stationierung zusätzlicher Brigaden in Richtung Pokrowsk keinen großen Unterschied machen würde“, urteilte die ukrainische Analysegruppe Frontelligence Insight. „Und doch sehen wir nun, dass es einen Unterschied macht.“ Dieser „Unterschied“ besteht offenbar darin, dass Reserven der Ukraine den Vormarsch der Invasionstruppen von Wladimir Putin an diesem Frontabschnitt zumindest verzögern würden. Das berichtet aktuell das Magazin Forbes –und betont gleichzeitig, die Lage bliebe kritisch, und die ukrainischen Truppen stünden weiterhin mit dem Rücken an der Wand.
Niemand solle mit unmittelbaren dramatischen Veränderungen rund um Pokrowsk rechnen, warnt Forbes-Autor David Axe.
Zuletzt hatte das ZDF darauf hingewiesen, dass die 60.000 Einwohner zählende Metropole als logistischer Knotenpunkt für beide Kriegsparteien von existentieller Bedeutung sei; aber die Gegenwehr der Ukraine müsse als so massiv angesehen werden, dass „von einer langen und harten Belagerung“ auszugehen sei, wie das ZDF in Aussicht stellte. Forbes-Autor Axe behauptet aktuell, dass die Ukraine nicht nur genügend Truppen für eine Gegenoffensive auf Kursk hat massieren können, sondern noch nennenswerte Reserven gegen Pokrowsk in Marsch setzen konnte.
Pokrowsk: Bis zu 10.000 Ukrainer machen Putins Truppen im Ukraine-Krieg die Hölle heiß
„Doch obwohl die Ukrainer für ihre Überraschungsinvasion in der russischen Oblast Kursk ein Dutzend Bataillone aus etwa acht Brigaden abstellten, schienen sie vier oder fünf Brigaden – jede mit bis zu 2.000 Soldaten und Hunderten von Fahrzeugen – in Reserve gehalten zu haben. Der russische Propagandist Jewgeni Norinbeschriebdiese Einheiten als ,ziemlich intakt und gut ausgerüstet‘“, wie Axe schreibt. Gleichzeitig vermutet das Nachrichtenmagazin Spiegel, Präsident Wolodymyr Selenskyj hätte mit seinem Husarenritt gen Kursk zu hoch gepokert.
„Die Russen versuchen, wie Wasser einzusickern. Sie versuchen es überall, und wenn sie eine Ritze finden, dringen sie weiter vor. Wenn sie zurückgeschlagen werden, versuchen sie es eben woanders.“
Spiegel-Autor Christian Esch macht das fest an den zehn Kilometern Raumgewinn, der den Invasionstruppen Russlands im vergangenen Monat gelungen sein soll –mitsamt der Möglichkeit, die südliche Standgrenze Pokrowsks mit Artillerie zu erreichen. „Die russische Offensive im Donbass bedroht damit die letzte große Stadt im Westen des Donezker Gebiets, einen strategisch wichtigen Verkehrsknotenpunkt – dahinter beginnt die Oblast Dnjepropetrowsk“, schreibt Esch. Er behauptet, nirgends stehe die Front im Donbass so sehr unter Druck wie dort.
Die neue Dynamik an dieser Front sieht Forbes durch die Nachführung von Reservisten entstehen. David Axe berichtet von der Verlegung einer Angriffsbrigade der Nationalgarde: Die Kara-Dag-Brigade sei vom Süden in den Osten verlegt worden, um Pokrowsk zu retten. Dieser Großverband sei „eine paramilitärische Polizeitruppe, aber die Erfordernisse des Krieges haben die Brigade gezwungen, wie eine Armeebrigade zu kämpfen“, schreibt Axe. Während eine Nato-Brigade zwischen 1.500 und 5.000 Kräfte zählt, kann dieser Großverband in der Ukraine bis zu 8.000 Kräfte umfassen –die Reserve für die Pokrowsk-Front soll auch mit T-64-Panzern ausgerüstet sein.
Pokrowsk: Russische Prognosen treffen ein –die Ukraine unternimmt eine Gegenoffensive
Das ermögliche der Brigade offenbar, effektiv in die Kämpfe einzugreifen. „,Es passiert genau das, was vorhergesagt wurde – die ukrainischen Streitkräfte haben mit dem Gegenangriff begonnen‘,berichteteein russischer Blogger. Und das trägt zur Stabilisierung der Frontlinie bei – zumindest für den Moment“, schreibt Forbes. Nichtsdestotrotz bleibe die Situation „extrem schwierig“, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj diesen Frontabschnitt bezeichnet haben soll; so das ZDF.
Die Einnahme der Stadt Pokrowsk gilt demnach als ein wichtiges Zwischenziel für Wladimir Putin. Die vom ZDF befragten Analysten sehen eine ähnliche Situation heraufziehen wie in Bachmut, Awdijiwka, Tschassiv Jar und weiteren ukrainischen Siedlungen –das zähe Ringen beider Seiten könnte die totale Vernichtung auch dieser Metropole nach sich ziehen. Die Verbissenheit der Ukraine erkläre sich dadurch, dass die Ukraine von der Versorgung ihrer Truppen in Tschassiv Jar oder Donezk abgeschnitten oder mindestens massiv beeinträchtigt wäre, würden die russischen Truppen die Kontrolle über Straßen und Eisenbahnlinien in Pokrowsk erhalten.
Pokrowsk: Offensive und Gegenoffensive heben sich auf –wieder droht ein Patt
Tatsächlich hatte sich die Ukraine getäuscht, mit der Gegenoffensive über die russische Grenze den Donbass entlasten und den russischen Diktator zwingen zu können, seinen Würgegriff um Pokrowsk zu lockern. Aber: „Nicht die russische, sondern die ukrainische Seite wurde geschwächt“, schreibt Spiegel-Autor Christian Esch. Möglicherweise hat das russische Militärkommando tatsächlich Reserven umdirigiert: weg von der bisher vorrangig behandelten Offensive in Richtung Pokrowsk in Richtung Kursk, so der ThinktankInstitute for the Study of War (ISW) vor einigen Tagen.
„Dies legt nahe, dass der operative Druck durch den ukrainischen Einfall in die Region Kursk russische Operationen in allen Sektoren des gesamten Kriegsgebiets beeinflusst“, wie das (ISW) geschrieben hat.
Lautdem amerikanischen Sender NBCmüsse sich der Kreml auch wehren gegen Kritik durch russische Militärblogger, dass keine beziehungsweise nur eine schleppende Gegenoffensive der eigenen Truppen gegen die Eindringlinge in Kursk laufe. DasISWsieht darin einen möglichen Strategiewechsel der russischen Militärführung. Möglicherweise liegt die Ursache der verlangsamten Offensive lediglich darin, dass Russland doch seine Offensivkräfte leicht geschwächt und die Ukraine ihre Defensive verstärkt hat. Demzufolge wäre die nächste Pattsituation im Ukraine-Krieg Realität geworden. Beide Parteien schleifen sich auch bei Pokrowsk aneinander ab.
Pokrowsk: Putins Truppen kämpfen Meter um Meter, von einer Baumgruppe zur nächsten
Spiegel-Autor Esch sieht in Pokrowsk das, was Pokrowsk ist: den Archetyp dieses Krieges. Keine kilometerbreiten Panzer-Angriffe, wie zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs, keine stunden- oder tagelangen Bombardements zweier Kriegsparteien wie im ersten weltumspannenden Krieg. Die Russen müssen jeden Meter Raumgewinn mit Blut vergelten: Nicht mit Großangriffen und dem Einsatz von Panzerfahrzeugen würden die Russen voranzukommen versuchen, „sondern mit Nadelstichen, mit ständigen Angriffen in kleinen Infanteriegruppen“, wie der Spiegel schreibt – die russischen Infanteristen würden jede Baumreihe nutzen, um sich in der Steppe vor den Drohnen verbergen zu können.
„Die Russen versuchen, wie Wasser einzusickern“, klagt ein Artillerist bei Pokrowsk gegenüber Spiegel-Journalist Esch. „Sie versuchen es überall, und wenn sie eine Ritze finden, dringen sie weiter vor. Wenn sie zurückgeschlagen werden, versuchen sie es eben woanders.“ Russland setzt auf das, was Russlands Armee in allen Kriegen praktiziert hat: auf die schiere Masse an Menschen, die die militärische Führung in den Tod abzukommandieren bereit ist.
Pokrowsk: Möglicherweise plant die Ukraine ihren nächsten Coup gegen Russland
Die Kara-Dag-Brigade ist nur ein Großverband, den die Ukraine dagegen setzen und frei verschieben kann. Forbes-Autor David Axe spricht von „ein paar ungebundenen Brigaden“, die zum Entsatz der Front-Einheiten herhalten könnten. Genaues bleibt er schuldig. Einen russischen Propagandisten zitiert er damit, dass die Ukraine noch „etwa fünf Brigaden“ in der Hinterhand hätte. Der Spiegel sammelt Aussagen ukrainischer Offiziere, dass die Front bei Pokrowsk mitnichten von den Russen bedroht sei, sondern im Gegenteil dazu: stabil.
Die Russen wüssten nur nicht, dass sie mit der zehnfachen Übermacht anrennen würden, dass viele Verteidigungsstellungen nur zur Täuschung aufgebaut seien und die ukrainischen Verteidiger kurz davor seien, ihre Granaten und Patronen abzählen zu müssen. Für den Feind aus Russland schiene demnach alles danach auszusehen, als wäre Pokrowsk ein Bollwerk, an dem sie sich die Zähne ausbeißen müssten. Laut vieler Medienberichte scheinen die Ukrainer zu glauben, die Russen hätten auch noch die Kraft zuzubeißen.
Und die Offensive bei Kursk scheint der Ukraine das Gefühl zu geben, sie könnten dort mit ihren Offensivkräften einen langen Hebel für Friedensverhandlungen ansetzen. „Warum schickt die Ukraine diese Truppen nicht nach Pokrowsk, um die lebenswichtigen Versorgungslinien der Stadt zu sichern?“, schreibt der russische Blogger Jewgeni Norin, wie ihn Forbes zitiert. „Das könnte zweierlei bedeuten. Sie planen, sie woanders einzusetzen, und sie wollen einen entscheidenden Einfluss erzielen, bevor die Front im Donbass völlig zusammenbricht.“ (Karsten Hinzmann)
